Partizipation und Wissenschaft

Dystopien der Kunst

Sandra Groll

I.

Designentwürfe sind, da durch sie in der Alltagsrealität ein neuer und wünschenswerter Sollzustand realisiert werden soll, nicht nur grundlegend optimistisch, sie müssen auch von einer Gestaltbarkeit von Weltverhältnissen ausgehen. Sprich sie benötigen eine Spur *„utopische Einbildungskraft"1, dies gilt für Innovationen des Produktdesigns, wie für Fragen der Stadtplanung gleichermaßen. Ohne ein optimistisches Verhältnis zu der Frage, ob positive Zukunftsvisionen gestalt- und erreichbar sind, kommt kein Entwurf aus. Bevor es jedoch in der Praxis zu erweiterten Designversuchen der Zukunft kommen kann, bedarf es der Denkfiguren, mit denen der Raum aktuell nichtrealisierter aber potentiell möglicher Formen erkundet werden kann. Utopien und Dystopien sind imaginative Formen, die solche Erkundungen ermöglichen. Es dabei nicht das Feld der lebensweltlichen Gestaltung, sondern der Bereich der Kunst, in dem das Potential der Utopien als Denk- und Reflexionsfigur überhaupt entdeckt wird. Die Utopie ermöglicht dabei eine Realitätsverdoppelung, mit deren Hilfe die Bedingungen der jeweiligen Gegenwart von ihren ausgeschlossenen Möglichkeiten her beobachtet werden kann. Im Fall der Utopie unter der Annahme eines nichtrealisierten Wunschbildes. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bleibt das utopische Denken ein Gegenstand der Kunst. Erst im 20. Jahrhundert wird die Utopie zum grundlegenden Bestandteil von Designentwürfen, während sich die Kunst nun dystopischen Themen zuwendet. Mit Hilfe düsterer Szenarien, etwa Eugen Brachts ‚Gestade der Vergessenheit'  lässt sich so auch der Umstand verhandeln, dass die unbekannte Zukunft aus den Bedingungen der Gegenwart mit Hilfe von Technik und Design zwar zum Besseren gestaltbar erscheint, aber genau darin auch fragil und gefährdet ist. In Technik und Design hingegen herrscht ein utopische Zukunftsoptimismus, während das Dystopische in künstlerische Projekte eine Beobachtung des Alltags und Kommunikation darüber, dass auch der durch Design und Technik vermeintlich kontrollierbare Umgang mit einer offenen Zukunft nicht nur Chancen, sondern stets auch grundlegende Risiken enthält.

So sind beide, Dystopie und Utopie, Umgangsweisen mit Möglichkeitshorizonten menschlichen Handelns, die auf diese Weise jedoch erst in der modernen Gesellschaft möglich und notwendig werden. Sie benötigen einen sehr spezifischen Vorrat von Leitideen und setzen ein hohes Kontingenzbewusstsein voraus. Kontingenzbewusstsein, stellt sich immer dort ein, wo die Erfahrung gemacht wird, dass alles immer auch anders möglich wäre und dieser Möglichkeitssinn nicht als Störung einer Ordnung, sondern als Potential empfunden wird

Zwar ist die menschliche Lebenserfahrung immer schon grundlegend durch unbestimmter Zukunftshorizonte gekennzeichnet, allerdings ist es entscheidend unter welchen Grundannahmen diese Erfahrung gemacht wird. So ist es eine völlig andere Sache, ob man sich den offenen Möglichkeitshorizonten unter der Idee eines göttlichen Plans mit der Welt ausgesetzt sieht oder in dem Bewusstsein, dass das Anders-sein-können eine Chance enthält, die es auszunutzen gilt und deren Eintrittswahrscheinlichkeit von Entscheidungen in der Gegenwart abhängt. Erst in einer Gesellschaft, deren Ideenvorrat in der Lage ist Zukunft als eine offene und gestaltbare Angelegenheit verstehen, lassen sich offene Möglichkeitshorizonte als etwas verstehen, das Chancen und Risiken bereithält und bei dem es erheblich vom Handeln und den Plänen der Gegenwart davon abhängt, ob man die entsprechenden Chance nutzt. Damit setzen Dystopien und Utopie Kontingenzerfahrung voraus, die erst in einer modernen Gesellschaft normalisiert werden. Einer Gesellschaft, die sich nicht mehr auf die Gültigkeit einer religiösen Kosmologie und damit auf einen göttlichen Plan verlässt, der den richtigen Ablauf der Geschichte garantiert. Kontingenz wird für sie zu einem Eigenwert2, der einen besonderen Stellenwert einnimmt, weil das Anders-Möglich-Sein-Können in den gesellschaftlichen Prozessen gleichzeitig Unruhe und Stabilität erzeugt und damit Innovationen antreibt.

II.

Die Utopie, als Denkfigur und als Gegenstand der Kunst, entspringt dem Zeitalter der Renaissance. Zwar kennt bereits die Antike Gedankenexperimente über alternative politische und soziale Formationen -  etwa, wenn in Platons ‚Politeia' die Bedingungen und Form des idealen Staates erkundet wird -- allerdings handelt es sich hier nicht bereits um Utopien im modernen Sinne, denn es fehlt sowohl der entsprechende Gegenwartsbezug wie der fiktive Abstand. Die Utopie ist in der Renaissance noch gegenwartsverpflichtet3 und fiktiv, das heißt sie wäre konsistent unter den gegebenen Bedingungen möglich und ist eben noch nicht ein auf Zukunft ausgerichteter Gesellschaftsentwurf. Dieser Bezug wird erst späterer Zeit möglich und notwendig. So berichtet der fiktive Erzähler in Thomas Morus 1516 veröffentlichtem Werk ‚Utopia' über seine Reise zur fernen Insel Utopia, auf der sich andere Formen des sozialen Miteinanders etabliert haben. Er berichtet von einer alternativen Gegenwart und eben keinen zukünftigen Staats- oder Gesellschaftsentwurf.

Zählt man die Literatur zum Funktionssystem der Kunst, wie Niklas Luhmann4 vorschlägt, dann hat man es hier mit einer fiktionalen Komposition und einer Beobachtung der Realität von Gesellschaft, durch ihre ausgeschlossenen Möglichkeiten zu tun. Damit findet auch im und durch das Werk Morus eine Realitätsverdoppelung statt, die später zum Kennzeichen einer funktional ausdifferenzierten Kunst wird. Diese Realitätsverdoppelung ist auch bei Tommaso Capanella zu finden, dessen 1602 veröffentlichte Città del Sole allerdings anders als Morus Utopia eine religiös-ethische Färbung annimmt. Beiden gemein ist, dass in ihnen Alternativen der sozialen Realität formuliert werden und dabei utopische Staatsentwürfe vorschlagen, die anders als revolutionäre Bestrebungen, nicht realisierbar sind.

 Ob diese utopischen Fiktionen, wie aus moderner Perspektive oftmals unterstellt stets nur positiv utopisch gemeint waren, ist allerdings offen. Denn die rein positive Konnotation, die der Begriff Utopie besitzt, ist jüngeren Datums. Sie wird erst im Verlaufe des 18. und 19. Jahrhunderts möglich, wenn zur Utopie auch der entsprechende Gegenbegriff ‚Dystopie' gebräuchlich wird. Es ist John Stuart Mill der, maßgeblich zur Verbreitung des Begriffs ‚Dystopie' beigetragen hat, indem er ihn gegen Ende des 19.Jahrhunderts in seine parlamentarischen Reden einfließen lässt und dabei anmahnt, dass Utopien in Dystopien umschlagen können.5 Aber noch eine Umstellung zeigt sich: Utopie und Dystopie beziehen sich nun nicht mehr allein auf alternativ denkbare, aber von der jeweiligen Realität aus unerreichbare Gegenwarten, sondern auf Zukunftsvisionen. Sie spielen in gestaltend auf Zukunft ausgerichteten Aktivitäten eine Rolle und dienen der Reflektion dieser Aktivitäten. Damit drückt sich auch in ihnen das Zeitverständnis der modernen Gesellschaft aus, dass die Gegenwart zu einen Umschlagpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft verengt und dass notwendig macht, alle Aktivitäten auf eine wünschbare Version und die Chancenvielfalt dieser Zukunft auszurichten. Mit der Denkfigur ‚Dystopie' kann nun erfasst werden, dass entwerfendes Handeln in politischen und sozialen Fragen, zwar die Idee eines realisierbaren Utopia benötigt, die so initiierten Reformbestrebungen und Entwürfe aber auf eine Weise fehleranfällig sind, die sie in ihr Gegenteil umschlagen lassen. Dabei zeigt sich zwangsläufig auch das Pluralitätsproblem der modernen Gesellschaft, denn dass was des einen Utopie ist, des anderen Dystopie. Erst mit dem Gegenbegriff wird eine dialektische Handhabung von Utopie und Dystopie möglich, denn nun ist eine Differenz verfügbar, mit deren Hilfe Zukunftsentwürfe und aktuelle Realitäten auf ihre Wünschbarkeit oder ihren Horror hin befragt werden können. Nicht nur Utopien erfüllen also die Funktion „innerhalb des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu schärfen"6, auch Dystopien schärfen die Sinne, thematisieren aber die negativen oder düsteren Seiten von im Heute ergreifbaren oder bereits ergriffenen Möglichkeiten.

Auffällig ist jedoch, dass auf die Dystopie in der modernen Kunst, anders als apokalyptische Darstellungen in der vormodernen Kunst, keine Erlösung folgt. Vielmehr beschreiben Dystopien vielfach Ausweglosigkeiten, die sich aus technologischen und sozialen Innovationen ergeben. Damit drückt sich in den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Dystopie auch -- das arbeitet Agnes Heller heraus -- der Umstand aus, dass der technologische und soziale Zukunftsoptimismus der Gesellschaft der Moderne in eine Glaubenskrise gerät.

Dystopien in Kunst und Literatur des 20.Jahrhunderts weisen eine Reihe von wiederkehrenden Merkmalen auf: sie erzählen von nach- oder nicht mehr modernen Gesellschaften, beschreiben repressive Supermächte oder anonyme Strukturen, die Machtansprüche an Individuen stellen, oder berichten von einer düsteren Realität hinter die Realität. Kontrollprojekte, hierarchische Strukturen, Einschränkung individueller Freiheit, Konformismus, Korruptionen und soziale Repression beherrschen diese fiktiven Realitäten, die alles Menschliche verloren zu haben scheinen. Diese Dystopien bleiben aber oftmals fiktiv.

Im 20. Jahrhundert zieht sich das utopische Denken ins Design zurück und kommt in realisierten Designprojekten im Alltag an. Le Corbusiers Wohnmaschinen sind in diesem Sinne ebenso gebaute Utopien, wie die funktionalistischen Trabantenstädte der modernen Stadtplanung. Das Design des 20. Jahrhundert hat in diesem Sinne mit seiner besonderen Faszination für utopische Ideen und sozialreformerische Experimente in der gebauten Alltagsrealität eine Vielzahl von Spuren hinterlassen, die die Gestalt unserer Wirklichkeit und die Realität unserer Städte bis in die Gegenwart hinein prägen und Zustände schaffen, die  sich als realisierte Dystopien beobachten lassen. Bei ihnen handelt es nicht mehr um düstere Schreckensszenarien zeitlich und räumlich nichterreichbarer Orte, sondern um reale Wirklichkeiten, die zugleich von utopischen und dystopischen Momenten gekennzeichnet sind. Genau diese Einheit der Differenz von Utopie und Dystopie nimmt die zeitgenössische Kunst in den Blick, in der nun darauf hingewiesen werden kann, dass jede Utopie ihre eigene Dystopie und jede Dystopie ihre eigene Utopie enthält und es vor allem darauf ankommt diese Beobachtung zu motivieren.

Literaturverzeichnis

Heller, Agnes (2016); Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?, Edition Konturen, Wien, Hamburg, Luhmann, Niklas (1992); Beobachtungen der Moderne, Westdeutscher Verlag, Opladen, Luhmann, Niklas (1995a); Die Kunst der Gesellschaft, 1. Aufl. 1995, Suhrkamp, Frankfurt am Main, Seel, Martin (2001); Drei Regeln für Utopisten, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart Tarhair, Richard C. S. (2013); Utopias and Utopians. An Historical Dicitionary, Routledege London and New York
1 Heller, Agnes (2016); Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?, S.7 ff.
2 Luhmann, Niklas (1992); Beobachtungen der Moderne. S.93 ff.
3 Seel, Martin (2001); Drei Regeln für Utopisten. S.749.
4 Vgl. Luhmann, Niklas (1995a); Die Kunst der Gesellschaft.
5 Tarhair, Richard C. S. (2013); Utopias and Utopians. An Historical Dicitionary. S.110.
6 Seel (2001); S.747.