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Der Name ist programmatisch: Slavs and Tatars widmen sich dem „Gebiet östlich der ehemaligen Berliner Mauer und westlich der Chinesischen Mauer“. In interdisziplinären, objekt-, bild- und textbasierten Arbeiten führt das Künstlerkollektiv verschiedene, teils gegensätzliche Blickrichtungen auf ideologische, religiöse, geschichtliche und politische Felder zusammen. Der geografische Raum „Eurasiens“ liefert dazu in seiner ethnischen, kulturellen und sprachlichen Diversität das erzählerische und bildliche Material. Im Haus Esters entführen Slavs and Tatars die Betrachter*
innen unmittelbar in ein orientalisierendes Dekor, das sie der eleganten Nüchternheit der Architektur Mies van der Rohes ironisch entgegensetzen. Zugleich nehmen sie auf die ideologischen Konnotationen des ehemaligen Arbeitszimmers von Josef Esters, des sogenannten Herrenzimmers Bezug. Soft Power, der aus einem Teppich bestehende Zugang zum Raum, führt Motive aus verschiedenen traditionellen Türen aus Marokko, Kuwait und dem Iran zusammen.
Der runde Türklopfer rechts auf der Tür wäre beim iranischen Vorbild der Frau vorbehalten, während die linke Seite mit einem länglichen Klopfer ausgestattet wäre und ausschließlich von Männern benutzt werden dürfte. Die patriarchale Tendenz des Ortes erfährt einen weiteren Reflex durch die zentral im Raum positionierte Skulptur aus der Serie der Kitab Kebab’s. Ein gewöhnlicher Kebabspieß durchdringt eine Reihe von Büchern, darunter auch den ersten Band von Klaus Theweleits Männerfantasien über das faschistische Bewusstsein und die soldatische Prägung des männlichen Ichs. Darüber hinaus sind hier Bände zusammengebracht, mit denen der frauenfeindliche, patriarchale Charakter modernistischer Architektur angesprochen wird.
Der subversive künstlerische Impuls liegt vielleicht besonders in der physischen Attacke, durch die der Spieß eine laterale, seitliche aber auch materielle Beziehung zwischen den Texten herstellt. Die raumumspannende Wandarbeit Honey Dew geht die problematischen Machtverhältnisse von Unterdrückung und Propaganda aus staatlicher und historischer Perspektive an. Die Tapete zeigt im Rapport den Ausschnitt eines usbekischen Melonenmarktes. Das Fragment stammt aus einem 1934 herausgegebenen Jubiläumsband zu zehn Jahren Sowjetherrschaft in der Republik Usbekistan. Das von den Avantgardekünstler*
innen Alexander Rodtschenko (1891–1956) und Varvara Stepanova (1894–1958) gestaltete Buch enthält eine Reihe von Fotografien usbekischer Funktionäre, von denen fatalerweise bei Erscheinen zahlreiche bereits Stalins „Säuberungen“ zum Opfer gefallen waren. Um jeden Verdacht von sich abzulenken, hat Rodtschenko in seinem Exemplar Namen und Gesichter der ermordeten Männer und Frauen mit schwarzer Tinte getilgt. Korruption und Verrat werden von Rodtschenko als Künstler mitgetragen, ein Aspekt, der der Arbeit einen düsteren Unterton verleiht. Aus vollkommen divergenten Quellen destillieren Slavs and Tatars ein Szenario, in dem unter einem teils edlen Äußeren männliche Dominanz und totalitäres Staatsgebaren eine unheilvolle, geradezu ausweglos anmutende, dystopische Grundstimmung erzeugen.
Das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars mit Sitz in Berlin wurde 2006 aus einem Lesekreis gegründet. Die Arbeit des Kollektivs basiert auf den drei großen Bereichen Ausstellungen, Künstlerbücher und performative Vorträge. Neben Teilnahmen an zahlreichen internationalen Gruppenausstellungen und Biennalen, etwa der Venedig Biennale (2019 u. 2014), der Biennial of Graphic Arts, Ljubljana (2017), der Berlin Biennale (2014) oder der Manifesta (2014) werden ihre Werke seit 2008 in Einzelausstellungen weltweit Abstand vorgestellt: Albertina, Dresden (2018), Salt Galata, Istanbul (2017), Ujazdowski Centre for Contemporary Art, Warschau (2016), Blaffer Art Museum, Houston (2016) u.a.
Thomas Janzen